Bis in das 19. Jahrhundert war die Landstraße ein Feldweg, der "Kirchweg" genannt wurde. Wahrscheinlich meint das den Umstand, dass Oker erst seit 1823 eine eigene Kirche besaß und bis 1881 Teil der Kirchgemeinde von Harlingerode blieb. Für einige religiöse Angelegenheiten musste man also in der frühen Neuzeit über den "Okerschen Kirchweg" nach Harlingerode gehen.
Die Straße verlief östlich der Viehweide wohl seit der frühen Neuzeit wie heute, während sie in ihrem westlichen Verlauf erst im 19. Jahrhundert ihren heutigen Verlauf sicher bekam. Noch in einer Karte aus dem Jahr 1759 ist zu sehen, wie sie sich nach Westen in zwei Wege trennt: [1]
Der südliche Ast ist der oben genannte Okersche Kirchweg. Es ist die Verlängerung der Straße "Am Finkenbrink" nach Südwesten ins Schuletal (die Senke zwischen dem Heiligenholz im Nordwesten und der Ellernwiese im Südosten), und vom Ende der Straße aus weiter nach Westen durch das Heiligenholz über das Gelände des heutigen Kalkwerks Oker und dem Röseckenbach entlang auf das Gelände der ehemaligen Bleihütte Oker zur heutigen Hüttenstraße in Oker.
Der nördliche Ast war der Goslarsche Weg. Er ging als "Oberer Goslarscher Weg" von der Kreuzung mit der Viehweide aus in einer Linie durch das Heiligenholz hin zum Kalten Feld. Im kalten Feld vereinigte er sich mit dem "Unteren Goslarschen Weg", bei dem es sich um eine frühere Verlängerung der Kaltenfelder Straße nach Südwesten hin in etwa auf einer Höhe mit der heutigen Bahnlinie handelte. Der vereinigte Goslarsche Weg führte ins Okertal hinunter und endete, wo jetzt die Kielsche Straße in die Wolfenbütteler Straße mündet. Über die heutige Wolfenbütteler Straße ging es weiter nach Goslar. Historisch war die Wolfenbütteler Straße ein Teil der historisch sehr bedeutsamen alten Königsstraße von Goslar nach Halberstadt. Diese verlief auch durch die Harlingeröder Feldmark und war hier als "Alte Heerstraße" noch im 20. Jahrhundert geläufig.
Die beiden Goslarschen Wege mussten spätestens im 19. Jahrhundert aufgegeben worden sein, denn auf einer Karte aus dem Jahr 1903 sind die Wege im Kalten Feld völlig neu geordnet worden. [2] Im Jahr 1843 bekam die Landstraße schließlich auch westlich der Viehweide bis zum Kalkwerk endgültig ihren heutigen Verlauf: In diesem Jahr baute man den Weg von Oker über die Harlingeröder Landstraße nach Bad Harzburg zu einer Kunststraße (auch Landstraße oder Chaussee oder genannt) aus. [3] Chausseen waren zu dieser Zeit insbesondere für ländliche Wege ein sehr guter Ausbaustandard, sie verfügten über eine feste Fahrbahndecke (für die Landstraße wurde Kopfsteinpflaster gewählt), einen Fahrdamm und ein Entwässerungssystem. Für diese neue Straße baute man für die Oker eine Brücke aus Schmiedeeisen mit Holzbohlen als Fahrbahn. Es handelt sich um die 1843 erbaute Kirchenbrücke, die es bis heute gibt. [4] Zusammen mit der schon 1830 gebauten Straße nach Goslar war die Landstraße somit die einzige fest ausgebaute Verbindung von Bad Harzburg nach Goslar. Für die Nutzung der Kunststraße soll im späten 19. Jahrhundert zumindest zeitweise Wegegeld verlangt worden sein. [5]
Während die Straße in einem guten Zustand war, führte sie zunächst nur an nördlich gelegenen Dorf in der Landschaft bis 1860 ohne Bebauung vorbei. Wahrscheinlich das erste Haus war der von Johann Heinrich Klages im Eck zur Meinigstraße errichtete Holzhandel, der später zur Keimzelle der Klages-Sägewerke wurde (siehe auch Meinigstraße). Weitere Wohn- und Nutzgebäude kamen in den folgenden Jahrzehnten an den Einmündungen der heutigen Meinigstraße und Neuen Meinigstraße hinzu. 1882 baute man hier die Gaststätte "Zur Erholung" (heute Restaurant Korfu), für Reisende von Bad Harzburg nach Goslar war diese sicherlich eine erfreuliche Zwischenstation. Das erste Gebäude an der Landstraße abseits dieser beiden Einmündungen ist das heute bunt bemalte Gebäude an der Landstraße 5. Es stand zunächst isoliert an der Landstraße, die Lücke wurde aber auf der Nordseite bis ca. 1910 durch Häuser geschlossen. [6]
Das erste bedeutende Gebäude auf der Südseite ist das Haus Landstraße 32, das ist das massiv gebaute Haus gegenüber der Bushaltestelle nach Goslar. Der Unternehmer Heinrich Klages ließ das Haus 1904 in seinem Auftrag erbauen. Es steht heute unter Denkmalschutz und wird traditionell "Klages-Villa" genannt, obwohl sie schon seit 1931 nicht mehr zum Vermögen der Familie zählt. Bis 1980 hatte das Haus eine sehr große Fläche für eine Parkanlage; diese Flächen sind mittlerweile als eigene Grundstücke veräußert und zur Bewohnung überbaut. [7]
Die weiteren Wohnhäuser an der Südseite entstanden im Wesentlichen zwischen 1910 und 1930. Im Januar 1932 wuchs die Bedeutung der Landstraße dann für wenige Jahre erheblich: Sie wurde durch das Reichsverkehrsministerium zur Fernverkehrsstraße 6 (ab 1934: Reichsstraße 6) als Teil der Verbindung von Hannover nach Halle (und von hier weiter nach Sachsen und Schlesien) ausgewiesen. [8] 1933 wurde die Straße durch die Nationalsozialisten in Leo-Schlageter-Straße umbenannt. [9] Albert Leo Schlageter war ein rechtsextremer Terrorist und verübte im besetzten Ruhrgebiet mehrere Anschläge gegen die Besatzungsmacht Frankreich. Schlageter wurde noch im selben Jahr durch ein französisches Militärgericht hingerichtet. Die Nationalsozialisten erschufen einen Personenkult um Schlageter. Die Gemeinderat Harlingerode wurde ab April 1933 im Rahmen der reichsweiten "Gleichschaltung" vollständig von NSDAP-Mitgliedern übernommen. Es ist nicht bekannt warum gerade der Name Schlageters gewählt wurde. Die Gemeinde Harlingerode gab im Vergleich zu anderen Orten vielen Straßen den Namen von Nationalsozialisten.
Mitte 1939 änderte sich letztmals der Verlauf der Landstraße. Bis dahin führte sie an der heutigen Stadtgrenze von Bad Harzburg nicht nach Süden, sondern bog in einer weiteren Kurve nach Westen ab und ging über das Gelände der Bleihütte Oker in die heutige Hüttenstraße Oker. Der zu dieser Zeit seit fast 100 Jahren bestehende Verlauf der Chaussee wurde hier jedoch aus Sicherheitsgründen für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Stattdessen wurde die Landstraße in ihrem heutigen Verlauf nach Süden hin als Harlingeroder Straße neugebaut, wo sie seitdem an die Harzburger Straße anschließt. Diese wurde entlang dem wenige Jahre vorher neu errichteten Göttingerode bis Bündheim gebaut und im Juni 1939 als Reichsstraße 6 eröffnet. [10]
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die "Leo-Schlageter-Straße" 1945 endgültig in Landstraße umbenannt. Der Chausseecharakter mit dem Kopfsteinpflaster blieb bis in das späte 20. Jahrhundert erhalten, als über die Steine eine Asphaltdecke aufgetragen wurde. Die Pflastersteine liegen bis heute unter einem Bereich der Asphaltschicht und man kann sie sogar sehen, wenn durch Bauarbeiten diese Decke aufgerissen wird.
Mit der Eröffnung dieser Straße stufte man die Landstraße zur Landesstraße ab, die Landstraße hieß zuletzt L 501. Im Jahr 1987 eröffnete man schließlich die autobahnähnliche Bundesstraße 6 nördlich von Harlingerode: Die Straße über Göttingerode wurde zur Landesstraße und kriegte dafür die Nummerierung von der Landstraße. Die Landstraße wurde wiederum zur Kreisstraße (K 70) abgestuft.
Quellen
[1] Karte des Landes Braunschweig im 18. Jhdt: http://web.archive.org/web/20180426213341/https://www.geobasisdaten.niedersachsen.de/shop/uebersicht/BL/BL4029_4129.jpg
[2] Herzogl. Braunschweigische Landesaufnahme: Blatt Oker der Karte vom Amtsgerichtsbezirke Harzburg, 1903.
[3] Archiv-Vegelahn: Harzstraßen entstanden erst spät, in: Osteroder Kreis-Anzeiger, 10. Juli 1986. Link: https://www.archiv-vegelahn.de/index.php/harz/item/4228-harzstrassen-entstanden-erst-spaet
[6] NLA WO, 127 Neu, Nr. 1403: Grundstücksverhandlungen bei Bau der Bahnstrecke Bad Harzburg - Oker Enthält: Verkäufe, Enteignungen, Entschädigungen, Lagepläne, 1909
[7] Breustedt, Alfred: Sägewerk Klages. In: 950 Jahre Harlingerode, 1053 - 2003. S. 104, 2003
[9] Zellmer, Jörg: Kommunale Entwicklung von Harlingerode. In: 950 Jahre Harlingerode, 2003. S. 39
[10] Wolfgang Mehner: Geschichte der Blei- und Kupfererzeugung am Unterharz. Hrsg.: Harz-Metall GmbH. Goslar Oktober 1993, S.106: „Im Juni 1939 war die neue Reichsstraße 6 nach Bad Harzburg fertiggeworden, so daß die öffentliche Durchgangsstraße durch das Hüttengelände, die äußerst hinderlich für den internen Werksverkehr war, geschlossen werden konnte.“
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